Entwicklungstraumata und Konfliktfähigkeit
Entwicklungstraumata können einen erheblichen Einfluss auf Konflikt(un-)fähigkeit haben. In diesem Blog erzähle ich Dir von meiner eigenen Reise hin zu meiner KonfliktAbility und wie das Trauma meiner Großmutter einen Einfluss auf meine Schwierigkeiten hatte, meinen Durchsetzungsmuskel zu aktivieren.
Entwicklungstraumata und der Durchsetzungsmuskel
Ich suchte schon lange nach Antworten darauf, warum es mir so schwerfällt, in einen Konflikt zu gehen. Es musste eine ganze Menge passieren, bis ich – auch dank einer hervorragenden Traumatherapeutin – etwas entdeckt habe, das mich selbst ziemlich vom Hocker gehauen hat und für mich im Punkto meiner eigenen Konfliktfähigkeit nochmal ein ziemlicher Sprung war. Ich nehme dich hier kurz mit, weil das, was ich dort erkannt habe, mir eine grundlegende Einsicht geschenkt hat: Konfliktunfähigkeit – egal ob sie auf der Seite der fehlenden Empathie oder der fehlenden Durchsetzungskraft liegt – hat fast immer etwas mit frühkindlichen Erfahrungen oder Traumatisierungen zu tun.
Mir ist bewusst, dass der Traumabegriff gerade eine gewisse Konjunktur erlebt und man vorsichtig sein sollte mit Erklärungen, die alles darauf zurückführen. Trotzdem glaube ich, dass Entwicklungstraumata im Hinblick auf Konfliktfähigkeit eine der zentralen Ursachen sind, wenn sie nicht ausreichend ausgebildet ist – und dass sich solche Muster über Generationen hinweg fortsetzen.
Ich möchte dir das an meinem eigenen Beispiel zeigen.
Drei Generationen und ein Trauma und Konfliktunfähigkeit
Meine Großmutter, Jahrgang 1922, ist vom Krieg geprägt. Kriegstraumatisiert, alle Brüder im Krieg verloren, Flucht und Vertreibung – keine Vergewaltigung, aber viel Gewalt. Sie hat eine sehr klare Vorstellung davon, was richtig und was falsch ist, und kaum die Fähigkeit, sich in Menschen hineinzuversetzen geschweige denn sie zu akzeptieren, die nach anderen Werten leben als sie. Freundlich und zugewandt ist sie nur, solange man sich innerhalb ihres engen Rahmens von „anständig“ und „unanständig“ bewegt. Wer diesen Rahmen verlässt, bekommt ein kaltes Schwert zu spüren: Verurteilung bis hin zum Kontaktabbruch. Einer ihrer eigenen Töchter verweigert sie aus einem Streit heraus zehn Jahre lang den Kontakt.
Meine Mutter heiratet meinen Vater – ein Mann, der so gar nicht in das Bild meiner Großmutter passt. Und sie versucht, Beruf und Familie zu vereinbaren, was meine Großmutter für völlig falsch und zum Scheitern verurteilt hält.
„Damit will ich nichts zu tun haben. Das kann nur schief gehen“, sagt sie – und gibt mich, als ich ein Jahr alt bin und meine Mutter kurzfristig arbeiten muss, kurzerhand zurück.
Dieser Satz wirkt wie ein Fluch.
Er liegt über meiner Mutter, die den Kontakt nicht abbricht, aber eine schützende Distanz hält und uns Kindern signalisiert, dass es meine Großmutter ist, die „einen Knall“ hat. Trotzdem – der Fluch wirkt irgendwie weiter.
Tief in meinem Unbewussten hat sich die Erfahrung eingenistet, dass Abweichung vom Gegenüber Ablehnung bedeutet, vielleicht sogar Ausschluss aus der Familie.
Konflikt ist für mich damit gleichbedeutend mit Gefahr: der Gefahr, verstoßen zu werden.
Ich erinnere mich an einen Nachmittag bei ihr. Wir stehen in ihrem großen Haus vor einer Ahnentafel. Bis ins 18. Jahrhundert reichen die Porträts – gezeichnet, fotografiert, fein säuberlich beschriftet. „Keinen einzigen Zuchthäusler haben wir hier“, sagt sie stolz.
Ich frage mich, ob jene, die vielleicht nicht in dieses Bild passten, wohl an der Wand hängen dürften – und warum von uns keine Bilder dort sind.
Wenn ich bei ihr bin, habe ich das Gefühl, mich sehr beherrschen zu müssen: richtig essen, richtig sitzen, richtig reden.
Mein Vater, den sie als „ungehobelten Hippie“ wahrnimmt – er ist übrigens Beamter, ein kluger, liebevoller Mann, nur eben ohne Anzug und mit langem Bart und ja so dolle "Manieren" hat er tatsächlich nicht–, ist fast nie dabei. Ich habe das Gefühl, es ist besser so. Wäre er dabei, hätte ich mich vielleicht für ihn schämen müssen, weil er in ihren Augen „nicht richtig“ ist.
Wie meine Mutter das ausgehalten und manövriert, ist mir bis heute ein Rätsel. Eine meiner Tanten ist nach Amerika geflohen, die andere lange in innere Welten abgetaucht.
Erst viel später – nach einer mittelgroßen Krise, ausgelöst durch ein Schocktrauma, das mich schließlich zu meiner Traumatherapeutin geführt hat – beginne ich zu verstehen: **Das Verhalten meiner Großmutter ist traumabedingt. Und meins auch.**
Sie trägt ein Kriegstrauma. Ich trage die Spuren eines Entwicklungstraumas. Beides hat einen immensen Effekt auf unsere jeweilige Konfliktunfähigkeit. Meine Großmutter und ihr Mangel an Empathie - und ich mit meinem mangel an Durchsetzungsfähigkeit.
Vom Muster zur Erkenntnis
In einer zentralen Sitzung mit meiner Therapeutin begreife ich, warum es meiner Großmutter unmöglich ist, mich so zu nehmen, wie ich bin. Ganz sicher keine Handtaschen-Dame, die sich einen guten Mann sucht und ein ordentliches Leben führt, sondern eine Frau mit breiten Füßen, die nie in die Schuhe gepasst hat, die sie mir kaufen wollte. Mit einer wilden, lockigen Mähne, die sich nicht bändigen lässt – was sie unappetitlich fand. Mit Muskeln und einem breiten Kreuz, das nicht in die Kleidchen passen wollte, die sie mir gern angezogen hätte. Und mit Lust auf mehr als „nur“ Muttersein – auch wenn ich für meine Kinder fast alles geben würde. Eine Frau, die tanzt, lacht, früher geraucht hat, Antinazi-Shirts trug, manchmal durch die Nacht zog, politische Parolen auspackte, etc. – zu viel für ihre Ordnung.
Ich erkenne: Meine Großmutter konnte mich nicht lieben, weil sie mich hätte so annehmen müssen, wie ich war – und das hätte bedeutet, von ihrem starren Korsett aus Vorstellungen von richtig und falsch Abstand zu nehmen. Und dieses Korsett war ihr Schutzkorridor, innerhalb dessen sie ein ziemlich gutes und irgendwie auch glückliches wenn auch etwas einsames Leben führen konnte.
Dass solche Starrheit eine Traumafolge sein kann, erfahre ich erst in der Therapie.
Ich verstehe es so: innerhalb dieses Korsetts war ihr ein gutes Leben möglich, ohne an ihre traumatischen Erlebnisse zu rühren. Rechts und links davon warteten Unsicherheit, und kurz dahinter: Verlust, Trauer – Gefühle, die sie nicht zulassen konnte. Wenn sie ein Wort über ihre im Krieg gefallenen Brüder sprach, kamen ihr noch mit 90 Jahren Tränen – die sie in der nächsten Sekunde wegwischte zusammen mit dem Thema, als wäre nichts gewesen.Dieses enge Korsett war ihr Schutzkorridor, ihr Halt – aber es machte sie auch einsam. Sie hatte genug Geld um sich Gesellschaft und Pflege zu kaufen, aber auch bei ihr bleibt ein Gefühl, dass es "so eigentlich nicht sein sollte".
Und ich? Ich hätte mich noch so anstrengen können – es war mir unmöglich, in diesen Korridor hineinzupassen. Weder mein Körper noch mein Wesen hätten das hergegeben. So wuchs ich weitgehend ohne die Liebe meiner Großmutter auf. Und in mir hat sich ein Satz eingewachsen, unsichtbar, aber wirksam:
Wenn ich abweiche, verliere ich Zugehörigkeit
Dieser Satz wirkte lange wie ein unsichtbares Betriebssystem. Er sorgte dafür, dass mein Nervensystem bei Konfliktgefahr Alarm schlägt – als ginge es ums Überleben. Nicht symbolisch, sondern real, körperlich.
Konfliktunfähigkeit
Wenn sich ein solcher Satz – „Wenn ich abweiche, verliere ich Zugehörigkeit (oder Liebe, oder Sicherheit)“– in uns eingenistet hat, kann das im Erwachsenenleben erhebliche Auswirkungen haben.
Die Grunderfahrung lautet dann: Wenn ich mich vom Außen unterscheide oder das Außen von mir abweicht, ist das nicht nur unangenehm – es ist gefährlich.
Existenziell gefährlich.
Und das war es als Kind tatsächlich: Wir sind auf Liebe, Zugehörigkeit und Versorgung angewiesen.
Ein deutliches Anzeichen dafür, dass ein solcher oder ein ähnlicher Satz im Unbewussten wirkt, ist eine extreme innere Unruhe, eine „Shakyness“, wenn Konflikte auftauchen. Nicht abschalten können. Alarmiert sind. Gedankenkreise. Überaktivierung.
Dass Konflikte unangenehm sind, gehört zum Leben. Es ist zwar gut Konflikte lieben lernen zu wollen - aber ich denke, die wenigsten Menschen werden es so weit schaffen. Konflikte sind unangenehm. Aber es gibt einen Unterschied zwischen *unangenehm* und *getriggert*. Wenn wir getriggert sind, springt unser Nervensystem in den Gefahrenmodus. Wir wittern Bedrohung – und reagieren reflexhaft mit **Flucht**, **Erstarren** oder **Angriff**.
Alle drei Reaktionsformen können die Konfliktfähigkeit blockieren. Bei den „netten“ Konfliktvermeidern greift meist die Erstarrung – oder sie fliehen in die innere Emigration. Und: Sie tun alles, um Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen. Nicht, weil sie feige sind, sondern weil ihr Unbewusstes abgespeichert hat, dass Konflikte eine existenzielle Gefahr darstellen. Also vermeiden sie sie.
Sie werden durchsetzungsschwach – und oft zugleich übermäßig empathisch.
Denn Empathie hilft, Abweichung zu vermeiden. Wenn ich andere sehr gut verstehe, fühlt es sich weniger schlimm an, wenn sie anders denken oder handeln als ich. Ich reduziere mein eigenes Diskrepanzgefühl und damit eine ganze Menge möglicher Konflikte. Das funktioniert erstaunlich gut – manchmal über Jahre. Der Preis sind die eigenen Bedürfnisse, Werte und Meinungen, die in spannungsreichen Momenten zurückgehalten werden. Das geschieht nicht bewusst, sondern automatisch. Merken tut man es oft erst im Nachhinein: „Ach Mensch, da bist du wieder nicht für dich eingestanden.“ Oder: „Da hattest du eigentlich ein Nein.“ Und manchmal auch: „Irgendwie fühlt sich die Beziehung nicht mehr so nah an wie früher.“ Solche kleinen Selbstverrückungen summieren sich. Das ist nicht gut.
So ging es auch mir. Ich war bekannt für meine Empathie – und dafür, dass ich „unkompliziert“ bin. Mit Silke verstehen sich alle. Besser gesagt: **Silke versteht sich mit allen.** Manchmal, sehr selten, kam es auch bei mir zur Explosion – wenn das Fass wirklich überlief. Dann konnte ich plötzlich in den Angriff gehen. Aber meist tauchten Konflikte gar nicht erst auf, weil mein Empathie-Programm längst auf Autopilot alles tat, um sie zu vermeiden.
Konfliktfähigkeit lernen - kleine Schritte, Ansprüche runter
Was Menschen wie mir – und vielen, die ähnlich gestrickt sind – fehlt, ist zwar auch Einsicht, aber vor allem Durchsetzungskraft. Die Fähigkeit, die eigenen Grenzen, Bedürfnisse und Werte wahrzunehmen und mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Der Mut, sie auch zu vertreten. Die Verwurzelung in dem guten Grund, dem "Wofür" Der Autopilot, der alles daransetzt, Harmonie zu sichern, würde genau das immer wieder opfern, nur um Spannungen zu vermeiden.
Der erste Schritt besteht also darin, diesen Autopiloten zu bemerken und ihn zu unterbrechen. Das hat viel mit Selbsterfahrung zu tun. Mit dem Mut, sich selbst kennenzulernen – auch dort, wo es unangenehm wird. Und dann mit dem Schritt, sich zu zeigen, wo es wichtig ist. Am Anfang vielleicht nur in kleinen, ungefährlichen Situationen. Oder dort, wo etwas so Grundlegendes berührt wird, dass Werte und Bedürfnisse laut genug sind, um den Mut anzuschubsen.
Für Menschen wie mich ist es ein Fortschritt, wenn sie lieber etwas Unfertiges, vielleicht nicht perfekt Formuliertes aussprechen, als es gar nicht zu sagen.
Eigentlich müsste die Entwicklungsreihenfolge heißen: **erst ehrlich – dann nett.**
In der Realität läuft es oft umgekehrt: Wir lernen, *nett* zu sein – zum Beispiel durch die Gewaltfreie Kommunikation – und entdecken erst später, dass es manchmal wichtiger ist, *dass* wir etwas sagen, als *wie* wir es sagen. Das gilt nicht für jeden Konflikttyp - aber für Empathen auf jeden Fall. Denn: Wir müssen lernen, dass Konflikt nicht automatisch Gefahr bedeutet. Dass wir ihn überleben. Und dass Beziehungen daraus sogar gestärkt hervorgehen können – auch wenn sie daran scheitern können. Wir müssen lernen, die Gefahr realistischer einzuschätzen, anstatt dem Unterbewusstsein zu glauben, das bei jedem Konflikt Alarm schlägt, als ginge es um Leben und Tod.
Und gerade weil die Schwelle zum Sprechen ohnehin schon hoch ist, kann es hilfreich sein, sie zunächst niedrig zu halten. Nicht perfekt, nicht ideal, sondern mutig. Ein ehrliches „Ich finde das blöd"" kann mehr verändern als ein perfekt formulierter, aber unausgesprochener Satz.
Wenn wir – einzeln und kollektiv – verstehen, wie stark unser Nervensystem und unsere Geschichte mitspielen, wenn es um Konfliktfähigkeit geht, entsteht eine neue Milde, in mir zumindest. Wenn wir uns klar machen, dass unsere Großeltern und teilweise auch noch Eltern teilweise in einem autoritärem Paradigma aufgewachsen sind und das, was ich in "light" mit meiner Großmutter erlebt habe, bei ihren eigenen Eltern erlebt haben, wird klar, warum wir keine besonders Konfliktfähige Gesellschaft sind. Dann geht es weniger um Schuld und Unfähigkeit, sondern um Verantwortung für Veränderung. Und um eine gemeinsam unternommene Suchbewegung: KonfliktAbility.
Durchsetzungskraft, wenn sie sich mit Empathie verbindet, trennt nicht in erster Linie, sondern schafft Klarheit., Entwicklung und mitunter auch Nähe und ja manchmal auch Trennung.
Und Heilung beginnt oft dort beginnt, wo wir riskieren, **nicht mehr lieb, aber echt** zu sein.