Ambiguitätstoleranz und Konfliktfähigkeit

Ambiguitätstoleranz heißt: Spannung aushalten und trotzdem handeln – ohne in einfache Schuld- oder Freund-Feind-Muster zu kippen. Der Artikel zeigt, wie diese Fähigkeit wächst, warum sie gesellschaftlich relevant ist und wie sie in KonfliktAbility mit Empathie und Durchsetzungsfähigkeit zusammenwirkt.

Wie gut – und wie lange – hältst du es aus, wenn es kein eindeutiges Richtig oder Falsch gibt? // Wenn unter mehreren Entscheidungen nicht klar ist, welche die beste ist? //Wenn du einen Weg gehst und nicht weißt, wo er hinführt? //Wenn ein Gruppenprozess chaotisch wird, weil alle unterschiedliche Meinungen vertreten und diese miteinander ringen?

Das sind die Fragen, die nach Ambiguitätstoleranz fragen – also nach der Fähigkeit und Bereitschaft, Situationen, die uneindeutig oder mehrdeutig sind, ohne vorschnelle Reduktion auszuhalten und handlungsfähig zu bleiben.

Ambiguitätstoleranz ist eine zentrale Kompetenz für Demokratie- und Konfliktfähigkeit

Der Begriff geht zurück auf die Psychologin Else Frenkel-Brunswik, die 1949 erstmals dieses Persönlichkeitsmerkmal als „Fähigkeit, Mehrdeutiges zu ertragen“ beschrieb. Damals interessierte man sich dafür, was es braucht, um Ideologien, die ein einfaches Schwarz-Weiß-, Freund-Feind-Schema anbieten, den psychologischen Nährboden zu entziehen. Ambiguitätstoleranz war eine Antwort. Denn: Wenn ich besser aushalten kann, dass Situationen komplex sind und es selten den einen klar definierbaren Bösewicht gibt, bin ich offener für Erklärungsansätze, die nicht bei Schuld, sondern bei Komplexität ansetzen.

Ambiguitätstoleranz ist neben Emapthie und Durchsetzungsfähgigkeit die dritte zentrale Kraft für KonfliktAbility.

Denn wenn ich sowohl empathisch mit Dir bin als auch Verwurzel mit meinen guten Gründen und klar mit meinem Anliegen und mutig genug es auch zu vertreten bleibe ich mitunter länger in einer Spannung. Ich kippe nicht in Du bist falsch und ich bin richtig, oder andersrum, sondern bleibe in der Arena des Konfliktes. Und das wird viel leichter, wenn ich damit leben kann, wenn Situationen mehrdeutig sind. Und das kann ich wenn ich Ambiguitätstoleranz habe.

Früher galt Ambiguitätstoleranz als ein Persönlichkeitsmerkmal, das man hat – oder eben nicht. Als etwas Angeborenes oder früh Eingeübtes. Das Elternhaus, die Kindheit – sie galten als die zentralen Faktoren. Deshalb galt es bei der Erziehung nach Auschwitz auch, das kritische Denken und die Fähigkeit zur Mehrdeutigkeit zu fördern.

Heute sieht man das differenzierter: Ambiguitätstoleranz ist bis zu einem gewissen Grad auch im Erwachsenenalter noch erlernbar. Aber – da sind sich Forschende einig – ein unterstützendes Elternhaus oder pädagogisches Umfeld, das Kindern erlaubt, Fragen zu stellen, Widersprüche auszuhalten und nicht immer nur eine richtige Antwort vorgibt, begünstigt langfristig die Toleranz gegenüber Ungewissheit.

..ich bin dann mal weg - und trainiere meine Ambiguitätstoleranz :)

Auch Lebensumstände können im Erwachsenenalter Ambiguitätstoleranz erhöhen. Ein Auslandsaufenthalt, in dem man tief in einen kulturellen Kontext eintaucht, zum Beispiel. Ich selbst habe mit Mitte 20 zwei Jahre im Baskenland in Spanien gelebt – und erlebt, wie sich die eigene Identität verändert durch solch eine Erfahrung. Wenn man tief in Sprache und Kultur eintaucht, Beziehungen aufbaut, die ein Stück weit anders funktionieren als das, was man kennt. Man kommt verändert zurück. Weil man erfahren hat, dass es auch ganz anders richtig sein kann. Dass man selbst anders ticken kann – und es sich trotzdem stimmig anfühlt. Dass es viele Möglichkeiten gibt, ein gutes Leben, eine gute Freundschaft, eine gute Familie zu leben.

Das erhöht Ambiguitätstoleranz. Die gelebte Erfahrung: Es könnte auch ganz anders sein – und ich fände das auch richtig.

Auch Krisen können Ambiguitätstoleranz erhöhen – wenn man gut durch sie hindurchmanövrieren konnte. Oder ein dynamisches Jobumfeld kann dazu beitragen, die eigene Toleranz gegenüber Unsicherheit zu erweitern. (Oder sie senken – das hängt davon ab, ob man Halt erfährt.)

Aber auch Übungen zum Perspektivwechsel sind hilfreich. Eine (etwas herausfordernde) Übung dazu von Marshall Rosenberg (GFK), die ich mag, heißt „Im Herzen des Feindes“: Stell Dich einen Moment in die Schuhe Deines heftigsten Gegenübers. Schau mit seinen Augen: Was sieht er? Was fühlt er? Welche Bedürfnisse sind erfüllt – welche nicht? Was versucht er sich mit seinem Handeln zu erfüllen? Es geht um Einfühlung und Verstehen, nicht um Zustimmung. Deine eigenen Bewertungen legst Du dafür kurz beiseite – danach nimmst Du sie wieder bewusst auf. Ein bisschen verändert haben sie sich danach vielleicht aber doch?

Wichtig ist: Jeder Mensch entwickelt im Laufe des Lebens Strategien, mit Ungewissheit umzugehen – diese können entweder zu mehr Ambiguitätstoleranz führen (wenn man erlebt, dass Offenheit auch Chancen bietet) oder zur Vermeidung (wenn man gelernt hat: Unklarheit tut weh).

Ambiguitätstoleranz, Konfliktfähigkeit und Nervensystem

Ambiguitätstoleranz erkennst du daran, dass jemand Spannung nicht sofort auflöst. Dass er/sie DU und ICH gleichzeitig hält. Dass erst gefragt wird, bevor geurteilt wird. Dass Widersprüchliches stehen gelassen wird, und trotzdem Entscheidungen getroffen werden – ohne in Schwarz-Weiß zu kippen. Wenn jemand z.B. neugierig bleibt, auch unter Druck. Im Urteilstempo langsamer wird. Urteile mal unter Vorbehalt trifft. Oder wenn du die Person dabei erlebst, wie sie eigene Positionen präzisiert, vielleicht sogar verändert – statt sie reflexhaft zu verteidigen.

Das Gegenteil – also niedrige Ambiguitätstoleranz – zeigt sich in starkem Eindeutigkeitsdrang, schnellen Urteilen, Polarisierung, Vermeidung oder Aktionismus. Menschen (und Gesellschaften) mit geringer Ambiguitätstoleranz sind anfälliger für Ideologien, die für die Übel der Welt eine einfache Erklärung liefern und eine Menschengruppe zu den Hauptschuldigen erklären.

Als Konfliktvermittlerin ist man – durch Empathie und Neutralität für beide Seiten – eigentlich automatisch (sofern es gelingt) auf einer Position, auf der man Ambiguität gut beobachten kann. Wenn man sich wirklich auf den Prozess des Verstehens einlässt, kann man in der Regel beide Seiten gut nachvollziehen: Perspektiven, Positionen, Gefühle, Anliegen. Diese Haltung kann man lernen – und nach meiner Erfahrung gibt es viele Menschen, die Ambiguität in einer professionellen Rolle gut halten können, weil sie dort eine klare Aufgabe haben und nicht selbst involviert sind.

Etwas ganz anderes ist es, wenn man selbst in einem Konflikt oder in einer Spannung steckt. Oder wenn in einem Mediationsprozess ein Thema auftaucht, das einen selbst irgendwie betrifft. Trotz bester Absicht – und manchmal auch wider besseres Wissen – fällt die Ambiguitätstoleranz dann oft auf ein sehr niedriges Niveau.

Und ich glaube, das liegt daran, dass unser Nervensystem dann in ein anderes Programm schaltet. Wie schnell das geht – das hängt wiederum von der individuellen Ambiguitätstoleranz ab. Also: Ab welcher Schwelle wird Uneindeutigkeit als Unsicherheit eingeordnet? Und ab wann wird Unsicherheit als Gefahr gelesen?

Wenn das passiert, schalten wir um. Der Ruf nach Eindeutigkeit (gleich Sicherheit) geht los. Die innere Interpretation: Unklarheit = Unsicherheit = Gefahr. Das Nervensystem dreht am Regler. Der Frontallappen weiß zwar: „Ich habe gelernt, DU und ICH zu halten sind beides wichtiges Perspektiven – aber unter der Oberfläche rutschen alte Programme rein: Angriff, Verteidigung, Anpassung, Flucht.

Und das muss gar nicht spektakulär daherkommen. Oft ist es subtil – vernünftig verkleidet. Dann „reicht es“ plötzlich, und die Kollegin wird doch geoffboardet. Die Klärungsnachricht wandert noch einmal auf morgen. Ich räume die Tassen weg, schlucke den Ärger mit Schokolade. Oder ich gebe nach, „weil es dir so wichtig ist“. Oder… oder… oder. Hauptsache: raus aus der Spannung.

Ambiguitätstoleranz bleibt drin. Sie hält DU und ICH gleichzeitig. Sie steht im Zwischenraum: jenseits von Richtig/Falsch, im Sowohl-als-auch, im UND statt im ABER.

Sie ist die dritte zentrale Kraft von KonfliktAbility.

Empathie und Durchsetzungsfähigkeit sind die beiden Muskeln. Ambiguitätstoleranz ist die Spannweite, die bestimmt, wie viel Spannung ich tragen kann.

Niedrige Ambiguitätstoleranz setzt enge Grenzen – das System drängt auf schnelle Klarheit. Hohe Ambiguitätstoleranz ermöglicht, mich klar zu vertreten und dir wirklich zuzuhören. Ohne zu dämonisieren.

Weniger Schwarz-Weiß. Mehr Raum für das UND.

Weiter
Weiter

Entwicklungstraumata und Konfliktfähigkeit